Was Sezieren mit Träumen zu tun hat
Wenn man sich intensiv mit etwas beschäftigt, kann es schon mal passieren, dass sich die eigenen Träume davon beeinflussen lassen. Was das mit dem Medizinstudium und einer Sezierwoche zu tun hat? Ich versuche es in meinem Journaleintrag zu erklären:
Seit der ersten Praxisstunde haben alle gespannt darauf gewartet: Die erste Sezierwoche.
In Brünn haben wir einmal pro Woche Anatomiepraxis: In den ersten Stunden im Semester durften wir uns die verschiedenen Knochen genau anschauen, uns anschließend zu den Extremitäten vortasten, bis dann auf einmal ein ganzer Körper vor uns lag. Diese Präparate waren natürlich schon vorbereitet und - unter uns gesagt - teilweise von unseren Vorgängern ziemlich abgegriffen. Ich habe einmal den Sulcus nervi radialis gesucht, bis mir auf meine verzweifelte Nachfrage hin die Professorin mitteilte: "Den kannst du hier leider nicht sehen, der wurde wohl durch übermäßige Benutzung abgerieben".
Daher freuten sich die Meisten darauf, das, was man sich vorher nur im Atlas und an alten Präparaten anschauen konnte, endlich selbst freizulegen und zu begutachten. Die Woche vor der "Dissection" versuchten wir, uns so gut es eben ging, schon mal alle Muskeln und Nerven der Extremitäten und des Rückens ins Hirn zu pressen. Kurze Zusammenfassung: Das klappte mehr oder weniger gut.
Als wir dann am Montagmorgen in unsere Kittel gekleidet und mit Skalpell und Pinzette bewaffnet im Seziersaal standen, war ich für meinen Teil ein wenig aufgeregt. Ich hatte im Rettungsdienst schon die ein oder andere Leiche gesehen, diese waren jedoch anders. Sie waren vorher in Formaldehyd eingelegt worden, um sie zu konservieren, dementsprechend roch es in dieser Woche auch im ganzen Gebäude. Aber nicht nur das Gebäude - ich drücke es mal so aus: Wir hatten im Bus immer viel Platz und die Waschmaschine hatte durchgehend was zu tun.
Zunächst gab es eine Sicherheitseinweisung zu den Skalpellen, trotzdem schafften es mehr als genug Leute, sich zu schneiden und mussten sich vom Professor verarzten lassen. Was ich sehr gut fand, war, dass - bevor es los ging - noch einmal daran erinnert wurde, dass wir hier an echten Körpern und demzufolge echten Menschen arbeiteten. Respekt und Dankbarkeit gegenüber diesen Personen, die sich dazu bereit erklärt hatten, ihren Köper zur Verfügung zu stellen, sollte also selbstverständlich sein.
Dann ging es los, die Professoren erklärten uns, wie man die ersten Schnitte setzt und dann hieß es erstmal: Fett kratzen - zwei Tage lang. Dabei natürlich immer konzentriert bleiben, sonst schneidet man in den darunter liegenden Muskel oder durchtrennt einen oberflächlichen Nerv, wovon die Professoren natürlich weniger begeistert sind.
Ab Tag drei wurde es besser, das Fett war größtenteils entfernt und die ersten Muskeln und Nerven waren gut zu sehen. Man konnte nun endlich die einzelnen Stränge nachverfolgen und beginnen, sich seine eigene dreidimensionale Karte im Kopf zu erstellen. Parallel dazu legte man Nerven und Gefäße frei, durchtrennte Muskeln an vordefinierten Stellen und freute sich, wenn man endlich etwas wiedererkannte. Es war ein bisschen so wie man sich die Arbeit eines Archäologen vorstellt, der im Sand nach Relikten gräbt. Nur das wir halt in einem menschlichen Rücken gruben.
Nachmittags hatten wir dann "Freizeit", die wir nutzten, um weiter die Muskeln und Nerven zu wiederholen. Ich persönlich verbrachte ab dem dritten Tag den kompletten Tag im Sezierraum und lernte am Präparat, was mir unglaublich viel mehr brachte, als in meinen Atlas zu starren. Gefühlt wurde es auch immer leerer, weil viele sich verdrückten, um in der Bibliothek zu lernen. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, dass diejenigen, die aktiv an den Präparaten gearbeitet und gelernt hatten, in der anschließenden Prüfung besser abschnitten.
Richtig gelesen, am Ende der "Dissection" wartete eine Prüfung auf uns. Dementsprechend bestand diese Woche für uns nur aus Schlafen, Essen, Muskeln, Nerven und Gefäßen. Ab einem gewissen Punkt fängt man sogar an, von Muskeln zu träumen. Eine Kommilitonin von mir schwört, sie hat geträumt, sie wäre ein Blutplättchen und sei durch alle Venen und Arterien, die sie gelernt hatte, geschwommen.
Die Prüfung sah dann so aus: Alle warteten vor dem Sezierraum und wurden der Reihe nach reingerufen. Anschließend zeigte der Prüfer auf einen Muskel, Nerv oder ein Gefäß, und man musste ihn benennen. Gegebenenfalls wurde man auch nach der Funktion oder dem zugehörigen Verlauf gefragt. Ich wurde zum Beispiel über die Muskeln der Hand ausgefragt. Am Ende lohnten sich die Anstrengungen und Muskelträume: Ich bestand.
Alles in Allem war es eine sehr anstrengende, aber auch unheimlich lehrreiche Woche für mich. Es werden noch zwei dieser Wochen folgen, eine für die Organe und eine für den Kopf und ich muss sagen, ich freue mich darauf. Mal sehen, ob ich dann auch träume, ich wäre ein Blutplättchen.